Leben auf dem Friedhof
Seit ich in die andere Ferienwohnung umgezogen bin, habe ich einen weitreichenden Blick auf den Friedhof gegenüber.
Genaugenommen habe ich überhaupt nur Blick auf den Friedhof, denn so richtig klein ist der nicht.
Nun hatte ich doch gedacht, auf einem Friedhof geht es sehr ruhig und beschaulich zu und dort ist kaum Leben, schließlich werden dort ja Tote aufbewahrt, aber von wegen, den ganzen Tag über ist da richtig was los und zwar ab frühmorgens bis zum späten Abend.
Da ich ja sonst im Moment nichts machen darf, sitze ich den halben Tag auf dem Balkon und schaue dem Leben auf dem Friedhof zu und finde es mindestens so entspannend wie emsig.
So ziemlich jeden Tag sind hier die gleichen Leute anzutreffen, manche zu Fuß, andere mit dem Auto, wieder andere mit dem Fahrrad (was einer schweren Bergtour mindestens ebenbürtig ist!).
Da gibt es die älteren Frauen, manche noch in schwarz, andere schon in bunten Sommerkleidern, Päärchen allen Alters und erstaunlich viele Männer und auch die in allen Altersklassen:
Den Herrn Ende Fünfzig, der sich sehr gut gehalten hat und der jedesmal das gleiche Ritual vollzieht.
Er fährt mit seinem Sportwagen SEL vor, öffnet den Kofferraum, nimmt aus der linken Seite einen Lappen und wischt damit erst mal über die Stoßstangen des Wagens, sowie die Spiegel. Anschließend packt er den Lappen wieder zurück und nimmt aus der rechten Seite des Kofferraums einen anderen Lappen, mit dem er dann über den Grabstein wischt, bevor er mit der Blumenpflege beginnt.
Spricht irgendwas dagegen, für Stoßstange und Grabstein den gleichen Lappen zu benutzen?
Dann gibt es denn Mann Ende Vierzig, der sich schlecht gehalten hat und dem ganz offensichtlich eine weibliche Hand fehlt. Ein Auto wohl auch, denn er erscheint mit dem Fahrrad.
Jeden Tag. Und jeden Tag ist seine Kleidung eine optische Herausforderung: Kreideweiße Beine werden zur Hälfte mit Shorts bedeckt (es ist mir ein Rätsel, wie er es auf Dauer schafft, bei dem Wetter und mit Shorts so blaß zu bleiben), ein zu enges T-Shirt spannt sich bis kurz vor'm Faserriß über seinen Kugelbauch, Tennissocken verhüllen die Hälfte es unteren Beines und dazu natürlich Sandalen (wie hätte es auch anders sein können?). Aber er ist jeden Tag da, egal ob bei glühender Hitze oder bei strömendem Regen und scheint unendlich viel Zeit zu haben.
Und dann ist da noch die ältere Dame, etwa Mitte Fünfzig, die immer still erst ein Grab pflegt und immer wartet, bis niemand mehr da ist und dann zu einem anderen Grab geht und dort ein stilles Gebet spricht, sich dabei aber immer umsieht, ob auch niemand in der Nähe ist. Ich bin sicher, es gibt eine Geschichte dazu, aber ich fürchte, sie ist nicht glücklich. Jeden Tag kommen und gehen so etwa zwanzig bis dreißig Leute auf den Friedhof und überall ist alles gepflegt, bis auf das eine Grab, auf dem zwar ein riesiger schwazer Stein steht, aber nicht eine einzige Blume oder Grünpflanze. Nicht mal Unkraut scheint da wachsen zu wollen.
Jetzt weiß ich wieder, wieso ich keine Grabstätte haben will, sondern nur Asche, die verstreut werden soll.