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Neue Werte

Die Schule änderte viel in meinem Leben. Bereits das zweite Mal hatte der Ernst des Lebens begonnen (das erste Mal war der Kindergarten gewesen und ich ahnte noch nicht, wie oft in den nächsten Jahren dieser Ernst noch beginnen würde) und ziemlich schnell hatte ich mich an den Schulalltag gewöhnt.

Meine Klassenkameraden fand ich zwar alle irgendwie nicht so spannend (wieder so eine Horde äußerst wohlerzogener Geschöpfe und ich mitten drin), aber mein Klassenlehrer war toll! Herr Funnekötter entsprach so ziemlich dem, wie ich mir einen Großvater gewünscht hätte (trotz sieben Ehen meiner Großmutter war am Ende kein einziger Großvater für mich übrig geblieben, der letzte verstarb am Tag meiner Geburt, da ich aber ein wasserdichtes Alibi hatte -ich war in der Klinik- konnte man mir das nicht anlasten!) und war fortan die höchste Instanz in meinem Leben.

Meine Mutter hatte damit kein Problem, allerdings ihre liebe Not, denn als die Wochentage dran kamen, mußte sie sich ungewollt einer Kraftprobe stellen.

Schuld war natürlich wieder ich, ich hatte die Woche nämlich falsch abgeschrieben und so ging bei mir die Woche etwas anders: Montag, Mittwoch, Dienstag, Donnerstag, ... Natürlich teilte ich mein frisch erworbenes Wissen daheim umgehend mit und meine Mutter war angemessen beeindruckt, wollte das mit dem Dienstag und Mittwoch aber korrigiert wissen. Ein völlig hoffnungsloses Unterfangen, denn Herr Funnekötter hatte gesagt ... und was Herr Funnekötter sagte, stand außerhalb jeglicher Diskussion.

Meine Mutter versuchte wirklich alles und schleppte Kalender an, in denen überall nach Montag der Dienstag kam, aber das war egal und alles falsch, denn Herr Funnekötter hatte gesagt ...

Es blieb meiner Mutter nichts übrig, als mit mir zusammen zur Schule zu gehen und Herrn Funnekötter zu bitten, die Wochentage in meinem kleinen Universum neu zu sortieren, was der dann umgehend und völlig reibungslos tat. Wenn Herr Funnekötter sagte, nach Montag kommt Dienstag, dann war das so und es war völlig egal, wie das gestern gewesen war.

Leider nutzte Herr Funnekötter die Sommerferien dazu, aus dem Leben zu scheiden (vor allem aus meinem übrigens) und nach den Ferien trat Frau Kaufmann als neue Klassenlehrerin an. Ich mochte sie, aber sie hat nie den Status von Herrn Funnekötter erreichen können und nachdem mir die Fluktuation im Bereich der Führungskräfte dann doch etwas schwindelerregend schnell verlief (Schwester Tadea hatte ich ja auch bereits hinter mir gelassen), blieb ich von da an doch etwas auf Distanz zu allen weiteren Führungskräften. Irgendwie hielten die alle nie so richtig lange und dafür brachten sie mein kleines Weltbild schlicht zu sehr durcheinander und fortan hielt ich mich an mich selber als höchste Instanz für alle Werte und Entscheidungen.

Was wäre wohl aus mir geworden, wenn Herr Funnekötter das Rentenalter erreicht hätte?

Wieso hört keiner auf mich?

Man kann nicht behaupten, ich sei so ganz ohne Vorwarnung über die Welt hereingebrochen!

Ganz abgesehen davon, dass ich für meine Mutter wohl keine sonderlich ruhige Schwangerschaft gewesen war (meine Schwester hatte sich natürlich vorbildlich verhalten), war auch meine Geburt eine etwas schwierige Angelegenheit gewesen und vor allem mein Versuch, von Anfang an klarzumachen, dass das mit mir nichts wird, aber auf mich wollte ja keiner hören.

Wie sich das für meine Familie gehörte, lang meine Mutter standesgemäß in der teuersten Privatklinik der Stadt und bemühte sich (vergeblich!) dem Professor klarzumachen, dass das mit der Geburt längst überfällig war, aber als Professor wußte er das besser.

Irgendwo hatte aber auch ich meine Sturheit her und meine Mutter bestand schließlich darauf, die Geburt künstlich einleiten zu lassen (damals nicht gerade üblich und zudem ziemlich riskant), es wurde also mit einer sehr langen, sehr dünnen und sehr spitzen Nadel die Fruchtblase angestochen und kurz danach kam ich dann endlich zur Welt, wenn auch blutüberströmt und laut brüllend. Der gute Professor hatte es mit der Nadel etwas zu gut gemeint und so nicht nur die Fruchtblase angestochen, sondern mir das Dinge genau zwischen die Augen und wenn man bedenkt, dass auch Dickschädel bei der Geburt noch einen ziemlich kleinen Kopf haben, grenzt es fast an ein Wunder, dass er mir nicht ein Auge ausgestochen hat oder mich gleich komplett erledigt hatte.

Meine Mutter hatte übrigens Recht gehabt mit ihrer Berechnung, denn ich zeigte bereits starke Fruchtwasservergiftungen. Die Haut hing an vielen Stellen lose an mir runter, ich roch ziemlich gammelig und hatte überall am Körper dicke, gelbe Stippen mit schwarzen Punkten drauf (Eiterblasen). Das Highlight müssen aber meine Haare gewesen sein: Ich hatte büschelweise pechschwarze Haare, die senkrecht vom Kopf abstanden und hart wie Draht waren, wovon aber nicht zwei die gleiche Länge hatten und die Schwestern nannten mich "den wildgewordenen Handfeger" und mit diesen markanten Merkmalen ist absolut sicher, dass ich später nicht verwechselt wurde, mich hätte man überall rausgefunden.

Alles in allem war das aber eine klare Ansage gewesen, die nur niemand verstanden hatte: Von Anfang an hatte ich versucht, meiner Mutter klarzumachen, dass das mit mir nur Probleme gibt und sie das mit meiner Geburt besser lassen sollte, aber sie mußte sich ja unbedingt einen Professor dazuholen und auch mein Versuch, mich in die Nadel zu stürzen und meine Geburt doch noch irgendwie zu verhindern, war ignoriert worden.

Tja, dann kein Mitleid, Ihr habt es so gewollt!