Kurz vor dem Abitur war ich wohl irgendwie nicht ganz ausgelastet, also
gönnte ich mir einen schweren Autounfall.
Nachdem mein kleiner VW-Käfer sich dreimal um sich selber gedreht hatte,
einer Straßenlaterne das Lichtlein ausgepustet hatte und einen nagelneuen
Citroen fachgerecht zum Totalschaden verschrottet hatte, bremste er mit einer
Bushaltestelle, die danach auch nicht mehr zu brauchen war, weil komplett flach
gelegt.
So richtig gesund war das allerdings nicht und so verbrachte ich längere
Zeit auf der Intensivstation, auf der ich mich erfolgreich weigerte, an meinen
diversen Verletzungen zu sterben. Neben diversen Knochenbrüchen,
Organquetschungen, einem Leberriß, kaputten Knien und einer veränderten
Wirbelsäule waren die schweren Kopfverletzungen wohl das, was den Ärtzen am
meisten Kopfschmerzen machte und jeden Tag wurde neu diskutiert, ob man nicht
doch besser den Schädel öffnen sollte, denn auf meinem etwas ungewöhnlichen Weg
durch die Kreuzung hatte ich erst mit dem Kopf das Seitenfenster eingeschlagen,
dann eine kurze Pause gemacht und den Unterkiefer auf das Lenkrad gebettet, um
dann nochmal richtig Anlauf zu nehmen und die Windschutzscheibe zu
durchschlagen. Dickschädel halt.
Da Kopfverletzungen sehr stark bluten, hatte es ziemlich lange gedauert, die
ganzen Splitter aus meinem Kopf zu holen und bis auf einen hat man auch alle
gefunden. Der eine war mit soviel Wucht eingeschlagen, dass er die Schädeldecke
durchschlug und sich bis heute in meinem Hirn einen unguten Weg bahnt, die
meiste Zeit aber friedlich ist. Erst viele Jahre später stellte sich heraus,
dass sich aus einer Quetschung eine Art Blutgerinnsel gebildet hatte,
dummerweise aber so ungünstig lag, dass man es weder therapieren, noch
operieren konnte, weil es mitten im Sprachzentrum lag. Leider lag es da nicht
nur rum, sondern würde mich nach Ansicht der Weißkittel demnächst erledigen und
demnächst sollte recht bald sein, das Hirn wurde nämlich nicht mehr ausreichend
mit Sauerstoff versorgt, löste sich bereits teilweise von der Schädeldecke und
legte das Sprachzentrum lahm.
Tja, da saß ich also nun und sollte daheim auf dem Stühlchen hocken und
warten bis ich sterbe und das einzige, was man mir therapeutisch noch anbieten
konnte, war eine psychologische Begleitung, die ich aber ablehnte, schon darum,
weil ich nicht mehr sprechen und schreiben konnte. Lesen allerdings konnte ich
seltsamerweise immer noch und so beschloss ich, sprechen und lesen alleine
wieder zu lernen und fand das dafür perfekte Medium: Usenet! Usenet wird
weltweit verteilt, ist sehr streng hierarchisch organisiert und besteht zu gut
90% aus Formalneurotiken, die gesteigerten Wert auf sauber gemischte
Groß-/Kleinschreibung legen und nach dem fünften Rechtschreibfehler wenig
höflich, dafür deutlich darum bitten, die Tür im Rausgehen leise zu schließen.
Ein Medium, in dem noch immer gilt "Form vor Inhalt".
Na da war ich ja bestens aufgehoben und nachdem ich mehrere zehntausende von
Postings gelesen hatte und am PC hartnäckig meine Schreibübungen gemacht hatte,
wagte ich mich, dort auch zu schreiben, erst mal allerdings nur in Testgruppen,
die an sich nur von Bots gelesen werden. Genau da wurden aber ein paar Leute
auf mich aufmerksam, die mich irgendwie witzig fanden und einluden, auch in
anderen Gruppen zu schreiben, was ich dann auch tat und so findet goolge bis
heute tausende von Postings von mir aus der Zeit (Usenet wird nicht nur
weltweit verteilt, sondern auch weltweit gespeichert und das in alle Ewigkeit).
Je mehr ich schrieb, desto mehr kam auch meine Sprache zurück, nur meine Pinnwand
glich inzwischen einem Blätterwald, denn es gab und gibt Worte, die ich einfach
nicht mehr lernen konnte und bis heute Buchstabe für Buchstabe abschreiben
muss. "Tastatur" ist eines davon und ich war einer der wenigen
Menschen, die total froh über die Rechtschreibreform waren, denn müssen,
müsste, musste habe ich nie mehr zusammen bekommen. "s" oder
"ß"? Ich habe keine Ahnung, dabei konnte ich das mal.
Es hat acht Monate gedauert, bis ich wieder richtig sprechen und schreiben
konnte, trotzdem waren die Weißkittel weiter sicher, dass ich nicht mehr
sonderlich lange zu leben hätte und an sich sogar bereits überfällig war, also
rief ich meinen Direktor an und teilte ihm mit, dass ich bitte wieder arbeiten
möchte. Autofahren konnte ich noch nicht wieder und es war klar, dass ich nicht
wirklich einsatzfähig war, also stellten meine Mitarbeiter und Kollegen
kurzerhand einen "Fahrdienst" auf die Beine: Ich wurde jeden Tag
abgeholt und wenn es mir schlecht ging, umgehend wieder nach Hause gefahren. Mal
war das eine Stunde, mal nur zwanzig Minuten, aber nach zwei Monaten
konnte ich wieder voll arbeiten und auch selber wieder Auto fahren.
Bis heute ist jedes Wort, das ich schreibe und jedes Wort, das ich spreche,
ein persönlicher Sieg für mich, den ich mir hart erkämpft habe und auch wenn
ich weiß, dass das oft anstrengend für andere ist, wird sich daran nichts
ändern: Ich schreibe sehr viel und ich spreche sehr viel, es sei denn, mir schlägt
eines Tages doch mal jemand den Schädel dafür ein. Was jetzt übrigens
ausdrücklich keine Aufforderung sein soll!