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Theo plant meine Zukunft

Meine Ausbildung neigte sich dem Ende zu und bisher war völlig ungeklärt, ob ich übernommen werden würde und falls ja, in welcher Abteilung. Der einzige Mensch, der sich darum keine Sorgen machte, war ich, schon darum nicht, weil es aktuell keine freien Stellen gab, die mich interessiert hätten.

Wir waren etwa 30 Azubis pro Lehrjahr und die Mehrzahl davon wurde übernommen und landete in so wenig spektakulären Abteilungen wie Restaurant oder Küche und da wollte ich ganz sicher nicht hin.

Ich war zu der Zeit in der Buchhaltung und wir hatten einen neuen Einkaufsleiter, der nur "Der Eierkopp" genannt wurde, was keine gute Beschreibung war, tatsächlich war er doof wie Brot und richtete ständig das größte Chaos an.

Theo machte noch immer seine Verschnaufpausen bei mir, außer wenn unser Buchhalter mit im Büro war, dann ging er behelfsweise in das meist leere Einkaufsbüro nebenan, wo der Eierkopp nur sehr selten war, so desorientiert wie er war, rannte er den ganzen Tag mit hochrotem Gesicht panisch durch die Gegend und versuchte zu korrigieren, was er wieder verbaselt hatte.

Eines Tage ging ich kurz nach Theo ins Einkaufsbüro, wo ich dem Eierkopp einige Rechnungen auf den Schreibtisch legte, die er mal wieder falsch kommentiert oder nicht abgezeichnet hatte. Eierkopp hatte zwar keinen Plan, aber einen Zettelklotz, auf dem auf jedem Blatt sein Name eingedruckt war und in der Zeile darunter "Einkaufsleiter" stand.

Auf dem obersten Blatt hatte Theo "gedacht" und in seiner gestochen scharfen Schrift Eierkopps Namen sauber durchgestrichen, statt dessen meinen hingeschrieben und die Zeile darunter auf "Einkaufs-Assistentin" geändert, eine Position, die es überhaupt nicht gab.

Zwei Wochen später bat er mich in sein Büro und erklärte mir, er habe mit der Zentrale abgestimmt, dass wir eine neue Position einrichten werden, nämlich die der Einkaufs-Assistentin. Ziel der Stelle sei, die komplette Lagerhaltung neu zu strukturieren, alle Verträge zu überprüfen und ggf. neue Konditionen auszuhandeln und anschließend alle internen Bestell-Abläufe neu zu organisieren und ein neues Controlling zu installieren, einschließlich dem dazugehörigen Berichtswesen und diese Stelle wolle er mir anbieten. Geplanter Zeitraum für die Umstrukturierung sei ein Jahr mit Aussicht auf die Position des Einkaufsleiters.

Natürlich habe ich angenommen, war aber nach sechs Monaten damit fertig. Nur Einkaufsleiter bin ich bei Theo dann doch nicht geworden, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Den korrigierten Zettel von Eierkopps Zettelklotz habe ich aber immer noch :-)

Die Sache mit den Namen

Wir hatten also einen neuen Direktor und irgendwie hatte der mit manchen Namen Probleme, so mit dem unseres Barchefs, Mats Lagerwall, seines Zeichens Schwede.

Abend für Abend wiederholte sich die gleiche Geschichte: Herr Theopold ging an der Bar vorbei und grüßte mit "Guten Abend Herr Lagerwald" und jeden Abend erklärte Mats ihm, dass er Lagerwall heißt, was Theo nicht weiter beindruckte, er konnte es sich einfach nicht merken.

Eines Abends hatte Mats dann wohl genug davon und auf den üblichen Gruß "Guten Abend Herr Lagerwald" antwortete er "Guten Abend Herr Leobald".

Theo stutzte, blieb stehen und erklärte: "Ich heiße Theopold, nicht Leobald" und Mats antwortete: "Nicht so schlimm, ich heiße ja auch nicht Lagerwald sondern Lagerwall!" und grinste.

Trotzdem konnte Theo sich den Namen nicht merken und so änderte er den Text des täglichen Rituals kurzerhand auf "N'abend Mats".

Geht doch :-)

Der Preis der Verschnaufpause

Aus irgend welchen Gründen mochte mein Direktor mich und so durchlief ich während meiner Ausbildung mehr Abteilungen als von der IHK vorgesehen, aktuell war es der Einkauf.

Theo hatte inzwischen alle seine Mitarbeiter kennen gelernt und nur wenige mochten ihn. Die letzten zehn Jahre war er in Caracas gewesen und hatte von dort mitgebracht, dass man Mitarbeiter regelmäßig anschreien muss, damit die nicht ständig irgendwo faul in der Sonne lagen und pennten.

Ich hatte mehrfach versucht, ihm zu erklären, dass das in unseren Breitengraden nicht nötig sei, schon darum nicht, weil hier nicht ganzjährig die Sonne vom Himmel knallte, aber es blieb dabei: Der erste, der das Pech hatte, Theo morgens über den Weg zu laufen, wurde erst mal angebrüllt.

Die Stimmung war eindeutig auf dem Tiefpunkt.

Ein bis zweimal pro Tag stürmte Theo ins Einkaufsbüro (das alleine war schon recht sportlich, das Einkaufsbüro war so klein wie ein Schuhkarton), ließ sich auf dem zweiten Stuhl hinter mir fallen, holte tief Luft und lies sich zusammensacken. Dann rauchte er eine Zigarette, holte nochmal tief Luft, richtete sich wieder auf und ging wieder.

Anfangs hatte ich noch gedacht, dass ich mich mit ihm unterhalten müsse, das war aber nicht nötig, für ihn war das der Ort, an dem er sich sicher fühlte, wo er kurz verschnaufen konnte, um sich dann wieder auf das Schlachtfeld zu begeben. Wegen unseres ersten Zusammentreffen war er der Meinung, ich sei der einzige Mensch seiner 120 Mitarbeiter, der es gut mit ihm meint und so, wie er sich benahm, hatte er damit nicht ganz Unrecht.

Soweit ja irgendwie schmeichelhaft, für mich aber teuer, denn oft war es meine Zigarette, die er da rauchte, womit ich auch noch hätte leben können, nur steckte Theo nicht selten meine Schachtel ein, bevor er wieder ging.

Auch wenn das offensichtlich keine böse Absicht war, ging das auf Dauer doch ins Geld und nach der fünften Schachtel wartete ich drei Minuten ab und rief ihn in seinem Büro an, wo er sich in seiner üblichen, wenig freundlichen Art knapp am Telefon meldete und fragte ihn, ob er bitte mal in seine rechte Jackentasche gucken könne und mir sagen, was er da drin hat. Theo kannte mich und meine komischen Fragen inzwischen gut genug, um entschieden zu haben, dass es besser sei, sie zu beantworten und meldete "Eine Schachtel Zigaretten". Dann bat ich ihn, das mit der anderen Jackentasche zu wiederholen und staunend erklärte er "Noch eine Schachtel Zigaretten!"

"Prima" sagte ich, "Das ist nämlich meine und die hätte ich gerne wieder zurück oder eine Lohnerhöhung, das ist jetzt nämlich schon die fünfte Schachtel und ich bin hier nur Azubi, nicht Krösus!"

Theo kam umgehend zurück, brachte mir meine Zigaretten zurück und zeigte mir bedauernd sein wirklich komplett leeres Portemonnaie, entschuldigte sich und versprach, das wieder gut zu machen allerdings nicht mehr heute (siehe leeres Portemonnaie).

Am nächsten Tag bekam ich mit dem knappen Kommentar "Anzahlung" eine neue Schachtel Zigaretten und von da ab jede Woche eine und er gewöhnte sich an, jedes Mal, bevor er mein Büro wieder verließ, seine Taschen abzuklopfen und zu prüfen, ob nicht wieder meine Zigaretten eingesteckt hatte.

Er brüllte zwar noch immer jeden Morgen den ersten an, aber jetzt wusste ich immerhin, dass er lernfähig war und das mit dem Rumbrüllen haben wir dann auch irgendwann noch weg bekommen. Hat aber echt gedauert!

Wie ich meinen neune Direktor kennenlernte

Kurz vor Beginn meiner Ausbildung im Hotel wechselte der Direktor, was ich aber nicht sofort mitbekam, denn noch war ich ja Aushilfe, da war man über sowas nicht informiert, es wurden aber alle Mitarbeiter (inkl. Aushilfen) an einem bestimmten Tag für 16 Uhr zu einer kurzen Personalversammlung eingeladen. Worum es ging, war nicht bekannt, musste aber wohl wichtig sein.

Kurz vor 16 Uhr war ich brav vor Ort und fand vor der Stempeluhr einen Menschen, der etwas hilflos die über hundert Stempelkarten studierte.

Aha, eindeutig neu und ahnungslos, also stellte ich mich vor, erklärte, wie das mit den Stempelkarte funktioniert, wo man die bekommt, was am Monatsende damit passiert, wo man die einsehen kann, wo die Kantine ist, wo man rauchen kann und vor allem, dass man sich vor Dienstbeginn umzieht und erst dann stempelt und nach Dienstende erst stempelt und sich dann umzieht und heimlich rauchen auf dem Klo oder in der Umkleide ekelig ist. Ansonsten wünschte ich ihm alles Gute für seinen Job und erklärte ihm, dass unser Mövenpick Hotel Münster einfach toll ist und da tolle Leute arbeiten und trollte mich eilig davon, um 16 Uhr war ja Personalversammlung.

Dort stand dann unser Direktor und seltsamerweise neben ihm die hilflose Person von vorhin und erklärte, dass er das neue Mövenpick Hotel in Cairo übernehmen werde und seinen Nachfolger vorstellen wolle und das war der Mann neben ihm. Der stellte sich kurz vor und erklärte, dass er jetzt der Neue sei und bat um Verständnis, dass er seine Mitarbeiter erst nach und nach kennenlernen könne, bisher wisse er nur, dass wir ein tolles Hotel wären und wer Frau Kruse ist.

Tja, das war der Beginn einer wirklich guten Freundschaft, die sich auch über das Ende meiner Ausbildung hielt und mir eine gewisse Sonderstellung eintrug.

Schwierige Vorgesetzte

Schon in meiner ersten Beurteilung im ersten Lehrjahr stand "Nicht leicht zu führen" und so wirklich viel hat sich bis heute daran nicht geändert. Das mag aber auch daran liegen, dass die Sache mit den Führungskräften nicht immer so ganz einfach ist: Schwester Tadea hatte ich mit dem Kindergarten hinter mir gelassen, Herr Funnekötter (die nächste höchste Instanz in meinem kleinen Leben und mein erster Grundschullehrer) hatte mich über die Sommerferien durch Tod hinter sich gelassen und in der Lehre war das dann echt kompliziert geworden, denn einige davon mochte ich einfach nicht, was üblicherweise auf Gegenseitigkeit beruhte. Besonders nicht mochte ich unsere "Leiterin Hotelabteilung" (nicht ahnend, dass ich diesen Titel Jahre später selber tragen würde).

Eine durchaus beeindruckende Dame, der ich nach wie vor hohe Fachkompetenz zugestehe, aber bei Sozialkompetenz war sie eine Nullnummer, auch wenn ich zugeben muss, dass ich sehr viel von ihr gelernt habe (dummerweise hat sie mich in einem Beurteilungsgespräch mal direkt gefragt, ob ich etwas von ihr gelernt hätte und meine Antwort hat sich nicht unbedingt positiv auf meine Beurteilung ausgewirkt: Ja, habe ich, nämlich wie ich es auf keinen Fall machen werde!").

Zu der Zeit war Trinkgeld noch erwähnenswert und an der Rezeption verging kein Morgen ohne mindestens ein bis zweihundert Mark Trinkgeld. Dieses Trinkgeld war allerdings bei besagte Leiterin Hotelabteilung abzugeben und wurde von dieser nach einem unbekannten Schlüssel ungefähr monatlich an die Mitarbeiter verteilt. Bekannt war nur, dass Azubis mit einem festen Betrag von 50 Mark bedacht wurden, es sei denn, die Dame hatte entschieden, das gesamte Trinkgeld für irgendwelche Zwecke zu spenden. Natürlich ohne zu fragen!

So ganz habe ich nie an die Spenden geglaubt, denn die Dame litt an chronischem Geldmangel (kein Wunder, wenn man jeden Tag mit dem Taxi zur Arbeit und wieder zurück fährt, das geht auf Dauer ins Geld, aber ihren Führerschein bewahrte eine Behörde für sie auf, Trunkenheit am Steuer war schon damals nicht gern gesehen). Es hätte sich aber niemals jemand gewagt, irgendwas zu sagen, auch dann nicht, wenn mal wieder Geld in der Kasse fehlte. Die Kasse konnte zwei Minuten vorher gezählt worden sein und gestimmt haben, sie wechselte sich nur mal kurz Geld für Zigaretten und man durfte scher sein, dass durchschnittlich 20 Mark fehlten. Ok, nicht meine Kasse, nicht mein Geld, ergo nicht meine Baustelle.

Die Azubis der Rezeption mussten regelmäßig die freien Tage der Shop-Leitung (Verkauf von Mövenpick Eis, Kuchen, Wein und etwa einer Million Geschenkartikel) übernehmen, ich besonders häufig und an jedem Feierabend kam sie in den Shop, ließ sich ein Stück Kuchen einpacken, den die nicht bezahlte und den ich ihr auch noch ins wartende Taxi tragen durfte.

Das war dann allerdings tatsächlich meine Baustelle, aber nicht mal ich war so wahnsinnig, sie zu fragen, ob sie nicht der Meinung sei, dass auch sie für Kuchen bezahlen müsse, gleichzeitig hatte ich aber auch eine Verantwortung meinem Arbeitgeber gegenüber und das hier war eindeutig Diebstahl, also was tun?

Jeden Abend war im Logbuch der tägliche Umsatz des Shops einzutragen und die Kuchenkontrolle und das Logbuch wurde jeden Morgen vom Direktor abgezeichnet. Die Kuchenkontrolle war allerdings alles andere als eine echte Kontrolle, die wurde nämlich von hinten nach vorne errechnet, statt gezählt: Anzahl Kuchenstücke, die man abends ins Kühlhaus brauchte, minus Anzahl verkaufter Kuchen laut Kassenjournal, minus Anzahl Bons aus dem Restaurant war der Anfangsbestand, es gab also niemals eine Differenz. NIE!

Jedenfalls bis dahin. Da klar war, dass ich die Dame nicht würde ansprechen dürfen (zumindest nicht, wenn ich überleben wollte), das aber nicht einfach so stehen lassen wollte, machte ich meine Eintragung der Kuchenkontrolle so, dass das erste Mal eine Differenz entstand und schrieb im Logbuch erklärend dazu: "Ein Stück Mohntorte (DM 3,50) hat Frau [Name entfernt wegen Datenschutz oder was auch immer] mitgenommen." und legte das unserem Direktor brav in sein Fach. Was der jetzt damit machen würde, war nicht mehr meine Angelegenheit und lag eindeutig außerhalb meines Kompetenzrahmens.

Die Logbücher der einzelnen Abteilungen wurden am nächsten Tag um 10 Uhr beim täglichen Kadermeeting wieder an die Abteilungen verteilt und um 10:45 des nächsten Tages fand ich mich prompt strafversetzt auf der Etage wieder, wo ich Zimmer putzen durfte, statt Geschenkartikel zu verpacken und die Uhl'sche Schleife zu üben: Der Direktor hatte die Dame im Kadermeeting seidenweich gefragt, was sie von unserer Mohntorte halte und die schwärmte gleich los, wie gut die sei und mit den Worten "Dann sollten Sie sie das nächste Mal bezahlen. Das von gestern umgehend!" knallte er ihr das Logbuch hin.

Meine Strafversetzung dauerte allerdings nur knapp zwei Stunden, dann lief ich unserem Direktor über den Weg, der nicht schlecht staunte, als er mich in Zimmermädchen-Uniform sah und wortlos aber wutschnaubend davon stampfte. Zehn Minuten später durfte ich mich dann das zweite Mal an dem Tag umziehen und fand mich umgehend im Shop wieder bei meinen Schleifchen, Kaffee, Eis, Wein und Kuchenstücken.

Von da an hatte ich in der Dame einen leidenschaftlichen Feind und das blieb bis zum letzten Tag so. Ihrem letzten Tag übrigens, denn die Dame durfte vor mir gehen und konnte mir auch nichts mehr tun, dafür sorgte unsere Direktor schon :-)

Warum ich soviel rede und schreibe

Kurz vor dem Abitur war ich wohl irgendwie nicht ganz ausgelastet, also gönnte ich mir einen schweren Autounfall.

Nachdem mein kleiner VW-Käfer sich dreimal um sich selber gedreht hatte, einer Straßenlaterne das Lichtlein ausgepustet hatte und einen nagelneuen Citroen fachgerecht zum Totalschaden verschrottet hatte, bremste er mit einer Bushaltestelle, die danach auch nicht mehr zu brauchen war, weil komplett flach gelegt.

So richtig gesund war das allerdings nicht und so verbrachte ich längere Zeit auf der Intensivstation, auf der ich mich erfolgreich weigerte, an meinen diversen Verletzungen zu sterben. Neben diversen Knochenbrüchen, Organquetschungen, einem Leberriß, kaputten Knien und einer veränderten Wirbelsäule waren die schweren Kopfverletzungen wohl das, was den Ärtzen am meisten Kopfschmerzen machte und jeden Tag wurde neu diskutiert, ob man nicht doch besser den Schädel öffnen sollte, denn auf meinem etwas ungewöhnlichen Weg durch die Kreuzung hatte ich erst mit dem Kopf das Seitenfenster eingeschlagen, dann eine kurze Pause gemacht und den Unterkiefer auf das Lenkrad gebettet, um dann nochmal richtig Anlauf zu nehmen und die Windschutzscheibe zu durchschlagen. Dickschädel halt.

Da Kopfverletzungen sehr stark bluten, hatte es ziemlich lange gedauert, die ganzen Splitter aus meinem Kopf zu holen und bis auf einen hat man auch alle gefunden. Der eine war mit soviel Wucht eingeschlagen, dass er die Schädeldecke durchschlug und sich bis heute in meinem Hirn einen unguten Weg bahnt, die meiste Zeit aber friedlich ist. Erst viele Jahre später stellte sich heraus, dass sich aus einer Quetschung eine Art Blutgerinnsel gebildet hatte, dummerweise aber so ungünstig lag, dass man es weder therapieren, noch operieren konnte, weil es mitten im Sprachzentrum lag. Leider lag es da nicht nur rum, sondern würde mich nach Ansicht der Weißkittel demnächst erledigen und demnächst sollte recht bald sein, das Hirn wurde nämlich nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt, löste sich bereits teilweise von der Schädeldecke und legte das Sprachzentrum lahm.

Tja, da saß ich also nun und sollte daheim auf dem Stühlchen hocken und warten bis ich sterbe und das einzige, was man mir therapeutisch noch anbieten konnte, war eine psychologische Begleitung, die ich aber ablehnte, schon darum, weil ich nicht mehr sprechen und schreiben konnte. Lesen allerdings konnte ich seltsamerweise immer noch und so beschloss ich, sprechen und lesen alleine wieder zu lernen und fand das dafür perfekte Medium: Usenet! Usenet wird weltweit verteilt, ist sehr streng hierarchisch organisiert und besteht zu gut 90% aus Formalneurotiken, die gesteigerten Wert auf sauber gemischte Groß-/Kleinschreibung legen und nach dem fünften Rechtschreibfehler wenig höflich, dafür deutlich darum bitten, die Tür im Rausgehen leise zu schließen. Ein Medium, in dem noch immer gilt "Form vor Inhalt".

Na da war ich ja bestens aufgehoben und nachdem ich mehrere zehntausende von Postings gelesen hatte und am PC hartnäckig meine Schreibübungen gemacht hatte, wagte ich mich, dort auch zu schreiben, erst mal allerdings nur in Testgruppen, die an sich nur von Bots gelesen werden. Genau da wurden aber ein paar Leute auf mich aufmerksam, die mich irgendwie witzig fanden und einluden, auch in anderen Gruppen zu schreiben, was ich dann auch tat und so findet goolge bis heute tausende von Postings von mir aus der Zeit (Usenet wird nicht nur weltweit verteilt, sondern auch weltweit gespeichert und das in alle Ewigkeit).

Je mehr ich schrieb, desto mehr kam auch meine Sprache zurück, nur meine Pinnwand glich inzwischen einem Blätterwald, denn es gab und gibt Worte, die ich einfach nicht mehr lernen konnte und bis heute Buchstabe für Buchstabe abschreiben muss. "Tastatur" ist eines davon und ich war einer der wenigen Menschen, die total froh über die Rechtschreibreform waren, denn müssen, müsste, musste habe ich nie mehr zusammen bekommen. "s" oder "ß"? Ich habe keine Ahnung, dabei konnte ich das mal.

Es hat acht Monate gedauert, bis ich wieder richtig sprechen und schreiben konnte, trotzdem waren die Weißkittel weiter sicher, dass ich nicht mehr sonderlich lange zu leben hätte und an sich sogar bereits überfällig war, also rief ich meinen Direktor an und teilte ihm mit, dass ich bitte wieder arbeiten möchte. Autofahren konnte ich noch nicht wieder und es war klar, dass ich nicht wirklich einsatzfähig war, also stellten meine Mitarbeiter und Kollegen kurzerhand einen "Fahrdienst" auf die Beine: Ich wurde jeden Tag abgeholt und wenn es mir schlecht ging, umgehend wieder nach Hause gefahren. Mal war das eine Stunde, mal nur zwanzig  Minuten, aber nach zwei Monaten konnte ich wieder voll arbeiten und auch selber wieder Auto fahren.

Bis heute ist jedes Wort, das ich schreibe und jedes Wort, das ich spreche, ein persönlicher Sieg für mich, den ich mir hart erkämpft habe und auch wenn ich weiß, dass das oft anstrengend für andere ist, wird sich daran nichts ändern: Ich schreibe sehr viel und ich spreche sehr viel, es sei denn, mir schlägt eines Tages doch mal jemand den Schädel dafür ein. Was jetzt übrigens ausdrücklich keine Aufforderung sein soll!